Vom Erstarren ins Leben zurückfinden: Polyvagaltheorie und Aktivierung
- Alexandra Gerl
- 28. Juni
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 3 Tagen
Manchmal ist es, als würde jemand den Stecker ziehen: Der Körper wird schwer, der Geist leer. Alles scheint zu viel. Man liegt da, starr, ohne Energie. Innerlich fühlt es sich wie eine Betäubung an. Keine Angst, kein Kampf – nur Leere. Für viele ist das beängstigend, für andere das Einzige, was noch möglich ist.
Was hier passiert, ist kein Versagen. Es ist ein uraltes Überlebensmuster: die Erstarrung.
Aus der Sicht der Polyvagaltheorie geschieht in solchen Momenten eine Umschaltung in den sogenannten dorsalen Vagus-Zustand.
Das Nervensystem geht in den Notbetrieb und fährt herunter, um vor weiterer Überforderung zu schützen. Dieser Zustand ist evolutionär sinnvoll – aber er kann chronisch werden. Dann verlieren wir die Verbindung zu uns selbst, zu anderen und zum Leben.
👉 Der Weg aus der Erstarrung beginnt nicht mit Entspannung. Er beginnt mit Aktivierung.
Warum das so ist – und wie wir diesen Weg sicher und achtsam gestalten können – darum geht es in diesem Artikel.
Was ist die Polyvagaltheorie?
Die Polyvagaltheorie wurde vom Neurowissenschaftler Stephen Porges entwickelt. Sie beschreibt, wie unser autonomes Nervensystem auf Sicherheit oder Gefahr reagiert. Diese Reaktionen prägen unseren Körper, unsere Emotionen und unser Verhalten.
Im Zentrum steht der Vagusnerv, einer der wichtigsten Nerven in unserem Körper. Er ist wie eine Kommunikationsautobahn zwischen Gehirn und Körper und steuert u. a. Herzschlag, Atmung, Verdauung, Stimme und Mimik.
Porges unterscheidet drei neurophysiologische Zustände (man spricht auch von „Vaguszuständen“), die sich evolutionär entwickelt haben:
🟢 Ventraler Vagus – verbunden, sicher, sozial: Du fühlst dich ruhig, klar und offen. Dein Körper ist entspannt, und du kannst kommunizieren, denken und fühlen.
🟠 Sympathikus – aktiv, kämpfend oder flüchtend: Du bist wach, bereit zu handeln, aber innerlich angespannt oder gestresst. Kampf- oder Fluchtmodus sind aktiviert.
🔵 Dorsaler Vagus – Rückzug, Erstarrung, Abschaltung: Du bist innerlich leer, müde, betäubt oder dissoziiert. Dein System schaltet in den Überlebensmodus.
Wichtig: Diese Zustände sind nicht willentlich steuerbar. Sie laufen automatisch ab – abhängig davon, ob dein Nervensystem Sicherheit oder Bedrohung wahrnimmt.
👉 Deshalb hilft es nicht, sich „zusammenzureißen“ – sondern nur, das Nervensystem gezielt zu regulieren.
Polyvagaltheorie trifft Yogaphilosophie: Tamas, Rajas und Sattva
In der Yogaphilosophie wird das Erleben des Menschen durch die drei sogenannten Gunas beschrieben – Qualitäten oder Grundenergien der Natur:
Tamas steht für Trägheit, Dunkelheit, Schwere und Stillstand.
Rajas für Bewegung, Aktivität, Energie, aber auch Unruhe.
Sattva für Klarheit, Ausgeglichenheit, Harmonie und Bewusstsein.
Spannend ist die Parallele zur Polyvagaltheorie:

Der dorsale Vagus-Zustand (Erstarrung, Rückzug) entspricht energetisch dem Tamas.
Der sympathische Aktivierungszustand (Kampf oder Flucht) entspricht dem Rajas.
Der ventrale Vagus-Zustand (Verbundenheit, Sicherheit) entspricht dem Sattva.
👉 Wie im Yoga gilt auch hier: Du kommst nicht direkt von Tamas zu Sattva. Du musst durch Rajas hindurch – also durch Aktivierung.
Das bedeutet, wenn jemand innerlich erstarrt ist, kann er nicht einfach „zur Ruhe kommen“. Er muss zuerst wieder in Bewegung, in Kontakt mit der Welt kommen.
Im Yoga ist das beispielsweise eine einfache körperliche Übung, bewusste Atmung oder ein leicht fordernder Asana-Flow. In der Polyvagalpraxis sind es Impulse, die das Nervensystem wieder wachmachen – Rhythmus, Bilaterale Stimulation, Co-Regulation, Stimme, Atem.
➡️ Erst durch Aktivierung (Rajas) wird Sattva – der Zustand von innerem Gleichgewicht – überhaupt erreichbar.
Warum Aktivierung der erste Schritt aus der Erstarrung ist
Wenn wir in einer extremen Stressreaktion erstarren, sind wir im Einflussbereich des dorsalen Vagus. Dieser Zustand schützt uns evolutionär sinnvoll, indem er alles herunterfährt: Herzfrequenz, Muskelspannung und Denkfähigkeit. Wir „frieren ein“.
Was viele nicht wissen: In dieser Phase sind weder tiefe Einsichten noch Ruhe noch Selbstregulation möglich. Wer hier meditiert oder versucht, sich „zu beruhigen“, scheitert oft – oder fühlt sich danach leerer.
👉 Deshalb braucht es zuerst: Aktivierung. Körperlich, emotional oder gedanklich – ein Impuls, der dich aus der inneren Starre holt.
In der Yogaphilosophie würde man sagen:
Aus Tamas (Stillstand) kommst du nur durch Rajas (Bewegung) – erst dann ist Sattva (Klarheit, Verbindung) erreichbar.
In der Praxis heißt das:
Aufstehen
Sich schütteln
Eine dynamische Yogaübung machen
Rhythmisch atmen
Die Stimme nutzen
Bilaterale Reize (klopfen, tippen, wippen)
In Kontakt gehen – mit dir selbst oder einem anderen Menschen
Was dann passiert: Der Körper wacht auf. Das Nervensystem beginnt, sich zu regulieren. Aus Hilflosigkeit wird Handlungsspielraum. Die Starre löst sich.
➡️ Erst nach der Aktivierung wird echte Selbstregulation, Mitgefühl, Sicherheit – also der ventrale Vagus-Zustand – wieder zugänglich.
Was du selbst tun kannst – Praxisimpulse zur Aktivierung
Erstarrung fühlt sich oft wie Ohnmacht an. Kein Gedanke hilft, kein „Zusammenreißen“. Deshalb braucht es körperbasierte Wege, die das Nervensystem sanft in Bewegung bringen – im wahrsten Sinne des Wortes.
1. Dynamische Mikro-Bewegung
Setz dich aufrecht hin. Nimm deine Füße am Boden wahr und beginne, ganz klein mit den Schultern zu kreisen. Vorwärts, rückwärts, langsam größer werdend. Dann streck dich, schüttel dich aus, und seufze laut.
→ Aktiviert den Sympathikus, ohne zu überfordern.
2. Laut atmen
Atme durch die Nase ein – und mit einem hörbaren „Haaaaa“ durch den Mund aus. Gerne in Kombination mit Bewegung (Arme heben beim Einatmen, fallen lassen beim Ausatmen).
→ Entstaut Energie im Brustraum und belebt.
3. Bilaterale Stimulation (z. B. Klopfen oder Wippen)
Trommle sanft im Wechsel mit den Fingerspitzen auf deine Oberschenkel – links, rechts, links, rechts. Oder praktiziere die Stimmulation über die Handflächen.
→ Fördert die Selbstregulation und verknüpft Hirnhälften.
4. Stimme als Ventil
Summen, tönen, brummen – z. B. ein langgezogenes „Mmmmm“ oder „Aaaaah“.
→ Regt den Vagusnerv über die Kehlkopfmuskulatur an. Evtl. reguliert es zusätzlich, wenn Du Deine Hand an Deine Kehle legst und dabei die Vibration unter den Händen wahrnimmst.
5. Eine kleine Yoga-Sequenz
Katze-Kuh im Vierfüßlerstand
Sonnengruß-Elemente (Arme heben, beugen, strecken)
Gleichgewichtsübung (z. B. Baum oder Stand auf Zehenspitzen)
Wichtig: Spür nach jeder Bewegung, ob sie dich belebt oder eher erschöpft. Wenn sie dich überfordert, wähl eine leichtere Variante oder geh einen Schritt zurück.
Wie ich damit arbeite – Yoga, Nervensystem & psychologische Beratung
Körper, Atem, Gefühl und Verstand – in meiner Arbeit bringe ich alles zusammen. Heilung passiert nicht nur im Kopf. Viele Menschen, die zu mir kommen, sind im Alltag funktional, aber innerlich abgeschnitten – vom Körper, ihrer Lebendigkeit oder ihrem inneren Kompass. Das zeigt sich z. B. in Antriebslosigkeit, chronischem Stress oder diffusen Ängsten.
Yoga als Zugang zum Nervensystem
Im Yoga arbeite ich mit sanften, regulierenden Bewegungen, bewusster Atmung und somatischen Übungen, die das Nervensystem direkt ansprechen. Keine Performance, kein „Höher-Schneller-Weiter“. Stattdessen: Wahrnehmung, Präsenz und Dosierung.
Beratung & Coaching – ressourcenorientiert und körpernah
In meiner psychologischen Beratung fließen Methoden aus der körperorientierten Traumaarbeit, der Polyvagaltheorie und der kognitiven Verhaltenstherapie ein. Ich arbeite traumasensibel, ohne zu retraumatisieren. Ziel ist nicht das Problem, sondern die Lösungskompetenz.
Wenn es passt, arbeite ich auch mit:
bilateraler Stimulation (z. B. aus dem EMDR)
kreativen Methoden (Malen, Schreiben, innere Bilder)
achtsamer Konfrontation – um aus dem Tamas wieder ins Rajas zu kommen.
Ich begleite den Weg zurück zur Selbstwirksamkeit – nicht durch Analyse, sondern durch Erleben.
Du möchtest die Theorie praktisch erleben und lernen, wie du dich selbst aus der Erstarrung holst?
In meinem Workshop „Sich selbst Halt geben – Ressourcentraining mit Körper und Gefühl“ erarbeiten wir genau das: Mit Hilfe der Polyvagaltheorie, bilateraler Stimulation und kreativer Körperübungen.
Fazit: Vom Erstarren ins Leben zurückfinden
Heilung beginnt dort, wo wir uns wieder spüren. Der Weg aus der Erstarrung führt über Aktivierung – nicht als Überforderung, sondern als dosierte, sichere Bewegung zurück ins Leben. Das Verständnis der Polyvagaltheorie hilft uns dabei, Symptome besser einzuordnen und neue Wege der Selbstregulation zu finden.
Die Yogaphilosophie und die moderne Neurobiologie reichen sich hier die Hand: Nur wenn wir handeln, können wir uns verändern. Nicht durch Druck, sondern durch bewusste, kleine Schritte – mit dem Körper als Verbündeten.
Impulse für Dich
🌀 Wie erkennst Du, in welchem Zustand Du gerade bist – dorsal, sympathisch oder ventral?
🌀 Was hilft Dir, in die Aktivierung zu kommen, ohne Dich zu überfordern?
🌀 Welche kleinen Bewegungen oder Rituale geben Dir täglich Halt?
Wenn Du tiefer einsteigen willst, begleite ich Dich gern – mit Yoga, Beratung oder in meinen Workshops.
👉 Jetzt anmelden und dabei sein! oder ruf mich auch gerne an: 0049 162 66 31 694
Comments